

migrant mother – Fotografie im sozialen Kontext der Zeit
Das Bild mit dem Titel migrant mother haben sicherlich viele von Euch schon einmal in Büchern mit ikonischen Bilder aus der Geschichte der Fotografie oder als Teil einer physischen oder virtuellen Ausstellung mit herausragenden Bildern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen. Wer war die migrant mother, wie war der damalige historische Kontext, welche Fotos sind in diesem Zusammenhang noch gemacht worden und wie kann man diese Art der Fotografie in die heutige Zeit übertragen?
Drehen wir die Zeit zunächst einmal ca. 100 Jahre zurück. Dorothea Lange hatte ihre fotografische Ausbildung beendet und widmete sich zunächst der Porträtfotografie. Man lebte gut, man lebte gerne und intensiv … und man ließ sich fotografieren im Amerika der Roaring Twenties.
Die Goldenen Zwanziger Jahre endeten jedoch abrupt mit dem Börsencrash am Schwarzen Donnerstag am 24.10.1929, der in seiner Folge eine weltweite Wirtschaftskrise und die Great Depression in den USA auslöste. Diese schwere Krise dauerte von 1929 bis zum Kriegseintritt der USA in Jahre 1941 an. 15 Millionen bzw. ca. 15% der US-Amerikaner wurden in der Krise arbeitslos, die Löhne und Einkommen waren durch Kurzarbeit und Lohndumping teils um mehr als 50 Prozent gefallen und ca. 40% der amerikanischen Banken gerieten in die Insolvenz.
In dieser Phase wurde der Demokrat Franklin D. Roosewelt 1932 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt und verabschiedete zur Bewältigung der Krise zwei „New Deal“-Programme. In den Great Plains, östlich der Rocky Mountains, war im 19. Jahrhundert die nomadisch lebende, indigene Bevölkerung vertrieben und die Büffel sind ausgerottet worden. Dann folgten die langen Trecks der Farmer und die großflächige Rodung des Präriegrases, um die Flächen für den Weizenanbau in Monokultur nutzbar zu machen.
Durch die einsetzende Bodenerosion, lang anhaltende Trockenheit und Staubstürme kam es in den 1930er Jahren zu katastrophalen Ernteausfällen und die notleidende Bevölkerung der Farmpächter und Lohnarbeiter machte sich über die Route 66 auf nach Westen, um in Kalifornien nach Arbeit als Farm- und Erntehelfer zu suchen. In Kalifornien, entlang des Highway 101, entstanden unzählige Ansammlungen von Camps. In ihren Autos mit Vorzelten und einfachen Bretterverschlägen hausten tausende Familien unter völlig unzureichenden hygienischen und sozialen Bedingungen und warteten auf eine Gelegenheit bei der Ernte von Obst, Gemüse oder Baumwolle ein karges Auskommen zu finden.
In dieser Zeit beauftragte die Farm Security Administration (FSA) bzw. ihr Vorläufer Resettlement Administration (RA) mehrere Fotografen diese Zustände in der Mitte der USA fotografisch zu dokumentieren, da sie den meisten Amerikanern, vor allem in den Städten und an der Ostküste, unbekannt waren und man sich so mehr Unterstützung für notwendige Hilfsprogramme versprach. Insgesamt entstanden so ca. 250.000 Fotos, die mit Texten in unterschiedlichen Regierungs-publikationen und auch in diversen Magazinen veröffentlicht wurden. Während vor der Great Depression fast ausschließlich mexikanische Arbeiter das Gemüse in Kalifornien ernteten, waren es nun amerikanische Migranten, Vertriebene und Hilfsbedürftige im eigenen Land. Die US-Amerikaner bekamen durch die Arbeit der Fotografen und Reporter nun ein Bild von den Auswirkungen der Great Depression in ihrem eigenen Land, welches sich tief in das Gedächtnis der Bevölkerung eingrub.

Fotozusammenfassung: Florence Owens Thompson, links Katherine (4 Jahre) und rechts Ruby (5 Jahre). Das Baby auf dem Schoß ist die einjährige Norma. (Quelle: Library of Congress, gemeinfrei)
Auch wenn sehr viele Bilder in dieser Zeit entstanden, ist migrant mother sicherlich das bekannteste Bild aus der Zeit der Great Depression. Rund 4000 Fotos von Dorothea Lange sind in der Library of Congress (www.loc.gov) erhalten geblieben und der Öffentlichkeit zugänglich.
Dorothea Lange war nach einer mehrwöchigen Tour durch die landwirtschaftlich geprägten Gebiete Kaliforniens, die Zeltlager und ärmlichen Einrichtungen entlang der Highways sowie die mit staatlicher Hilfe neu entstandenen Wohngebiete der Erntearbeiter auf dem Weg nach Hause, als sie nahe der Stadt Nipomo am Highway 101 ein Hinweisschild auf ein Pea Pickers Camp sah.
Tausende Menschen waren in diesem Lager gestrandet, da die dortige Salat- und Gemüseernte wegen eines Kälteeinbruchs ausgefallen war. Man lebte dort unter erbarmungswürdigen Bedingungen und ernährte sich in der Hauptsache vom verfrorenen Gemüse auf den Feldern. Dorothea Lange machte sechs Aufnahmen der Familie und setze dann ihre Fahrt fort, ohne weiter im Lager zu fotografieren.
(am Ende des Artikels findet Ihr in einer Galerie eine kleine Auswahl von Fotos aus der Kongreßbibliothek und weiterführende Links)
Dorothea Lange schickte die Bilder und einen Artikel an die San Franzisco News und in der Folge griffen immer mehr Medien die Story auf, was zu einer großen öffentlichen Anteilnahme führte und die Bundesregierung veranlasste 20000 Pfund Lebensmittel als Soforthilfe in das Pea Pickers Camp zu schicken. Florence Owens Thompson war zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Familie bereits weitergezogen. Sie erfuhr erst später von ihrem Bild in den Zeitungen, als ihre Kinder beim Verkauf von Zeitungen ihr Bild entdeckten. So wie sie ihre Geschichte erzählt, hatte Dorothea Lange sie niemals um eine Erlaubnis zur Veröffentlichung gebeten und auch nicht ihre persönliche Geschichte erfragt.
Dorothea Lange kannte zeitlebens den Namen der Frau auf ihrem bekanntesten Bild nicht, ihr war es nicht um die Person, sondern eher um eine geeignete und gelungene Illustration innerhalb ihrer Dokumentation über die soziale und wirtschaftliche Migration im amerikanischen Westen gegangen. Das bekannte Bild der migrant mother ist nicht das einzige Bild Langes aus dieser Zeit, dass den Bildinhalt Mutter-Kind(er) in Verbindung mit ärmlicher Behausung, Hunger und Armut aufgreift, aber von den Bildern, die ich mir in der Kongressbibliothek angeschaut habe, sicherlich eins der eindrücklichsten und nachhaltigsten Bilder. Nehmt Euch 1-2 Stunden Zeit und taucht in der Kongressbibliothek in die Bilderwelt der damaligen Zeit ein, es lohnt sich.
Die porträtierte Frau, Florence Owens Thompson, war sich der Bedeutung dieses Bildes und der Bekanntheit, die die Fotografin damit erlangte, erst viel später bewusst. Erst Ende der 70-er Jahre lüftete Florence Owens Thompson ihre Identität und erzählte ihre Version der Geschichte zu dem berühmt gewordenen Bild. Florence Owens Thompson hat sich immer über das Bild und den vermeintlichen finanziellen Erfolg der Fotografin geärgert, denn sie erhielt keinerlei Anteile aus den Erlösen. Erst 1983, im Rahmen ihrer Krebserkrankung und eines Schlaganfalls, nahm eine lokale Zeitung ihre Geschichte auf und es kamen Spenden von insgesamt 35.000 Dollar zusammen. Eine 32-Cent-Briefmarke der US-Post aus dem Jahre 1998 mit dem Ausdruck „Ameriva survives the depression“ brachte die migrant mother mit indianischen Wurzeln und ihr Schicksal erneut allen US-Amerikanern ins kollektive Gedächtnis und hat sie noch tiefer darin verankert.
Durch die RA/FSA war es im Rahmen der New Deal Programme zur Gründung landwirtschaftlicher Kooperativen, zum Bau von festen Unterkünften für die Arbeitsmigranten, zur Bereitstellung von Krediten für eine neue Selbständigkeit der Farmer, zur besseren medizinischen und schulischen Versorgung, zu Weiterbildungsangeboten, zu finanziellen Unterstützungsleistungen und vielem mehr gekommen … teils nachhaltig erfolgreich, teils krachend gescheitert. Es kam in dieser Zeit aber auch zu Streiks wegen der Dumpinglöhne, die die Großgrundbesitzer und Gesellschaften den Erntehelfern zahlten, und den Arbeitsbedingungen sowie zu Aussperrungen seitens der Großbauern und Produzenten. Die Lage verbesserte sich nur ganz allmählich und erst durch den Ausbruch des Krieges, mit dem großen Bedarf an Arbeitern in der industriellen Produktion konnte die great depression überwunden werden.
Der Zwiespalt zwischen der Fotografin und der gezeigten Person, kann sich auch bei der heutigen dokumentarischen und sozialkritischen Fotografie (beispielsweise bei dem beliebten Genre der Street-Fotografie) auftun und möglichweise zum Zeitpunkt der Aufnahme noch ungeahnte Probleme und Verwicklungen nach sich ziehen. Ich habe manchmal den Eindruck einige Fotografen machen sich darüber kaum Gedanken, was zählt ist das Foto. Heutzutage digital und in rasanter Geschwindigkeit veröffentlicht und verbreitet. Bei der heutigen Rechtslage (DSGVO u.a.) und der etablierten Rechtsprechung hätte Florence Owens Thompson sehr gute Chancen einen Anteil aus den Erlösen des Bildes, die sich aus Buchprojekten oder dem Verkauf zeitgenössischer Abzüge ergeben haben, oder eine Entschädigung seitens der Regierung zu erhalten. Das Foto hatte Dorothea Lange ja im Auftrag der Regierung aufgenommen, daher ist es heute als „gemeinfrei“ in der Kongressbibliothek abrufbar und für jedermann nutzbar.
Die Recherchen zu diesem Artikel waren ein tiefes Eintauchen in eine längst vergangene, aber irgendwie doch auch sehr aktuelle Welt. Die Bilder wären heute sicherlich anders, vielleicht farbiger, meist deutlich härter in der Darstellung, aber die dahinter stehenden Probleme und Schicksale sind doch vergleichbar… und werden es sicherlich leider noch sehr lange bleiben, auch wenn die Ursachen und Auswirkungen sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt haben. Für mich persönlich wurden die Herausforderungen und der tiefere Sinn sozialdokumentarischer Fotografie, gerade im Zusammenhang mit diesem Artikel, nochmal sehr deutlich. Ich möchte mich bei passender Gelegenheit auch praktisch damit beschäftigen, werde aber aus verschiedenen Gründen eher nicht in das Porträtieren von Menschen einsteigen. Den Menschen, sein von ihm geprägtes Umfeld und die menschgemachten Spuren im urbanen und ländlichen Raum kann man fotografisch auch ohne eine direkte Erkennbarkeit von individuellen Personen fotografisch darstellen. Diesen Weg könnte ich mir für mein weiteres fotografisches Vorgehen durchaus vorstellen, Themenfelder fallen mir genug ein …wenn nur Zeit kein Thema wäre 😉
TIP 1
Meine persönliche Empfehlung in diesem Zusammenhang ist ein Besuch des Städtchens Clervaux (Clerf) in den luxemburgischen Ardennen. Das Schloss beinhaltet, neben einem durchaus sehenswerten Museum über die Ardennenschlacht des 2. Weltkriegs, die 1955 im Museum of Modern Art (MomA) erstmalig gezeigte Ausstellung von Edward Steichen
Family of Man https://www.steichencollections.lu/de
Die Dauerausstellung ist ein zeitgenössisches Porträt der Menschheit in 32 Kapiteln, für mich eine der sehenswertesten Fotoausstellungen über das, was das Menschsein ausmacht. Die großen FotografInnen dieser Zeit sind dort mit ihren Werken vertreten. Von Robert Capa und Henri Cartier-Bresson, über Lee Miller und Diane Arbus bis zu Anseln Adams und Edward Weston, kaum ein bekannter Fotokünstler aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fehlt bei dieser Fotoausstellung. Gutes Essen und raue, bezaubernde Landschaften runden einen Ausflug in die luxemburgischen Ardennen ab … man muss ja nicht alles an einem einzigen Tag erledigen.
TIP 2
New Deal Photography USA 1935-1943
Taschen Verlag 2016, ISBN 978-3-8365-3711-7 ca. 600 Seiten mit vielen Fotos und Begleittexten
(antiquarisch als Restposten oder gebraucht im Internet)
TIP 3
Früchte des Zorns – John Steinbeck (1939) Buch ISBN: 9783423104746 und gleichnamiger Film
Im Rahmen der Arbeit zu diesem Artikel habe ich mir das Buch besorgt und habe angefangen darin zu lesen. Durch die Verbindung der Bilder aus der Kongressbibliothek und der Lebensgeschichte von Tom Joad, die der Pulitzer- und Nobelpreisträger Steinbeck detailreich und eindrücklich in der Sprache der damaligen Zeit erzählt, bin ich doch sehr lange und sehr tief in das Thema eingetaucht.
Das NEW DEAL PHOTOGRAPHY Buch hatte ich einmal in UK, es kostete mich damals 7 Pfund oder so, also fast nichts angesichts des Inhaltes von 600 Seiten. Sehr empfehlenswert. Es ist voll mit Bildern von Walker Evans, Jack Delano, Russell Lee und eben Dorothea Lange. Sehr sehenswerte Fotos.
stimmt, das Buch lohnt sich.
P.S. Lang in Lange korrigiert ;-.)